Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Rede beim Europarat zur Lage auf dem Westbalkan

Am 6. Oktober 2011 befasste sich die Parlamentarische Versammlung des Europarats in einer Dringlichkeitsdebatte mit der Lage auf dem westlichen Balkan. Anstoß der Debatte war der jüngste Ausbruch von Gewalt in Nord-Kosovo, der die Instabilität des bestehenden status quo deutlich vor Augen führte. Marieluise Beck machte in ihrer Rede deutlich, dass auch Bosnien und Herzegowina und Mazedonien sich in einer ähnlich fragilen Lage befinden, die jederzeit in Gewalt umschlagen könne. Europa müsse deshalb aktiv die politischen Konflikte und Blockaden angehen.

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Lesen Sie hier die Rede von Marieluise Beck:

Dankeschön, Herr Präsident!

Lieber Herr von Sydow, ich danke Ihnen und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für diese solide Arbeit, die sie in so kurzer Zeit geleistet haben.

Als ich am 11. Juli dieses Jahres nach der Grablegung von etwas mehr als 600 identifizierten Körpern Srebrenica verlassen habe, hat der dortige EUFOR-General, ein Österreicher, mich als deutsche Parlamentarierin dringend aufgefordert, die Truppen nicht weiter zu reduzieren. Denn nach seinen Beobachtungen vor Ort ist die Situation unter der Decke angespannter als wir sehen und sehen wollen.

Der Grund dafür ist eine gewisse Müdigkeit bei vielen Parlamenten und Bevölkerungen, nach so vielen Jahren noch Truppen dort zu stationieren. Wir werden gefragt: „Gibt es denn auch Missionen, in die ihr nicht nur rein, sondern aus denen ihr auch wieder rausgeht?“

Ich würde trotzdem sagen, so lange es noch eine Krise gibt, ist es besser, Soldaten vor Ort zu haben, bevor sie wieder offen ausbrechen kann, denn wir alle haben das Drama des gewaltsamen Zerfalls von Jugoslawien noch in Erinnerung.

Der politische Analytiker Veton Surroi spricht von den „vier unvollendeten Staaten“ auf dem Balkan und nennt dabei Serbien, weil es noch immer mit dem „Amputationsschmerz“ nach dem Verlust des Kosovo beschäftigt ist. Ich als deutsche Bürgerin kann sagen, wie lange solche „Amputationsschmerzen“ dauern; wir haben in den sechziger und siebziger Jahren selber erlebt, wie schwer sich die deutsche Bevölkerung und die Politik getan haben, anzuerkennen, dass durch eigenes Verschulden und eigene Aggression Teile des Landes verloren gegangen sind und dass wir das akzeptieren müssen.

Surroi nennt Bosnien, weil dort immer noch mit dem Gedanken der ethnischen Trennung gespielt wird – Andreas Gross hat darauf hingewiesen. Dabei wird verschwiegen, dass gerade Bosnien eine Bevölkerung mit einer sehr hohen ethnischen Verschränkung hatte: Fast 40% der bosnischen Familien waren multireligiös und multiethnisch. Bis zum Ausbruch des Krieges war ihnen das gar nicht bewusst, sondern sie wurden dadurch erst in eine Identifikation hineingetrieben, die sie selbst so gar nicht vornehmen wollten.

Das Ergebnis ist bis zum heutigen Tage ein geteiltes Land, in dem unterschiedliche politische Kräfte mit unterschiedlichen Motiven dafür sorgen, dass das Land keine wirklich funktionsfähige Zentralregierung hat und sich auch bisher nicht wirklich ernsthaft auf den Weg gemacht hat, um eine nach-Daytonsche Verfassung zu schaffen, die dieses Land regierbar und dann auch beitrittsfähig für die Europäische Union machen würde.

Mazedonien mit seiner albanischen Minderheit, das in großer Sorge ist, dass, wenn es irgendwo noch einmal Grenzverschiebungen geben sollte, dies die Lunte an das eigene Land legen könnte, und das Kosovo, das nachbarschaftlich immer noch keine geklärten Verhältnisse hat und wo wir gerade wieder den Konflikt im Norden erlebt haben.

Hierbei möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass die UN-Resolution 1244, die Sie, Herr von Sydow, eben erwähnt haben, die KFOR ganz eindeutig dazu auffordert, die Durchsetzung der Neutralität in dem Sinne zu gewähren, dass es keine serbischen Kontroll- und Verwaltungsstrukturen auf dem Boden des nördlichen Kosovo gibt, und EULEX dort auch unter dem Dach des UNMIC statusneutral agieren muss.

Wichtig ist etwas, das Andreas Gross eben hervorgehoben hat, und das ich aus den Schilderungen vor Ort weiß: Der Norden Kosovos ist mindestens ebenso sehr eine Frage von organisierter Kriminalität wie von ethnischer Politik und Grenzstreitigkeiten, und die Menschen, die sich multiethnisch bewegen wollen, geraten unter massiven Druck. Es gibt dort Bürger- und Fraueninitiativen, die fordern, den Nationalismus zu überwinden. Sie werden bedroht, weil eben der Deckmantel des vermeintlich ethnischen Konflikts die Möglichkeit gibt, organisierte Kriminalitätsstrukturen aufrecht zu erhalten.

Wir sollten dem nicht auf den Leim gehen. Europa bedeutet multiethnische Strukturen. Die Türen für Europa müssen für alle diese Länder offen bleiben, aber sie sollten auch wissen: EU bedeutet Aufgabe von Souveränität, und deswegen muss man nicht bis auf den letzten Millimeter Souveränität kämpfen.

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Lesen Sie hier die im Anschluss an die Debatte verabschiedete Resolution zum Westbalkan.

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