Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Tschetschenien: eine Despotie im Aufbau

Marieluise Beck besuchte als erste grüne Abgeordnete das Land im Nordkaukasus

Tschetschenien ist seit Beginn des ersten Krieges 1994 ein außenpolitischer Schwerpunkt der Bundestagsfraktion. Mit mehreren Anträgen haben wir in den vergangenen Jahren unsere Kritik an dem schmutzigen Krieg Russlands dort formuliert und zu einer politischen Lösung aufgerufen. Trotz mehrerer Versuche gelang es jedoch nie, sich ein eigenes Bild von der Entwicklung in diesem kleinen Land im Nordkaukasus zu machen. Nach langer und komplizierter Vorbereitung konnte mit Marieluise Beck aber jetzt vom 30.05. bis 03.06. 2007 zum erstenmal eine Abgeordnete unserer Fraktion nach Tschetschenien reisen.

Gelungen ist dies mit Hilfe der bekannten russischen Menschenrechtsaktivistin Swetlana Gannuschkina, die seit langem Flüchtlingen aus und in Tschetschenien hilft, und Ella Pamfilowa, der Vorsitzenden des „Rates zur Entwicklung der Institutionen von Zivilgesellschaft und Menschenrechten beim Präsidenten der Russischen Föderation“. Beide haben Marieluise Beck auch auf ihrer Reise nach Tschetschenien, Inguschetien und Nordossetien begleitet.

Marieluise Beck (m.), Swetlana Gannuschkina (li.) und Ella Pamfilowa (re.) mit Vertretern des Parlaments von Nordossetien in der Hauptstadt Wladikawkas.

Dass der Krieg zu Ende sei, haben nicht nur Präsident Putin, sondern auch Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen schon seit 2005 festgestellt. Damit ist gemeint, dass es keine ständigen militärischen Auseinandersetzungen zwischen russischen und Russland-loyalen tschetschenischen Sicherheitskräften einerseits, tschetschenischen Separatisten und terroristischen Islamisten andererseits mehr gibt. Auch die Bombardierung von Städten und Dörfern hat aufgehört.

Heute beherrscht der Sohn des 2004 ermordeten Präsidenten Ahmad Kadyrow als von Putin eingesetzter Präsident das Land unumschränkt. Ihm steht ein umfangreicher Sicherheitsapparat zur Verfügung, die sogenannten „Kadyrowtsy“. Die despotische, blanker Willkür folgende Herrschaft Kadyrows geht einher mit einem überbordenden Personenkult – Bilder des Präsidenten hängen in allen öffentlichen Räumen und im Riesenformat an vielen Häuserwänden, gefolgt von Porträts seines Vaters und Vorgängers sowie des russischen Präsidenten Putin.

Die Portraits von Achmad Kadyrow, Putin und Ramsan Kadyrow sind allgegenwärtig.

Die Menschenrechte sind nicht garantiert und die Zivilgesellschaft hat nur soviel Handlungsspielraum, wie der Präsident ihr läßt. Aber es gibt sie und sie kann legal arbeiten. Die meisten seriösen Informationen über die Lage in Tschetschenien stammen vom dortigen Ableger der russischen Menschenrechtsorganisation „MEMORIAL“, unserer langjährigen Partnerorganisation in Russland. Die Treffen mit „Memorial“ waren deshalb einer der Schwerpunkte des Besuchs.

Marieluise Beck beim Besuch von MEMORIAL in Gudermes, Tschetschenien.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Grosny, Gudermes und in der Nachbarrepublik Inguschetien berichteten von nach wie vor herrschender Straflosigkeit für Entführung, Folter und Mord an Verdächtigen wie Unschuldigen, die in die Hände der Sicherheitskräfte gelangen. Seit einigen Monaten allerdings sind neue Fälle des Verschwindens selten, denn Kadyrow hat befohlen, dies einzustellen. Die meisten Entführungen scheinen im Moment auf das Konto russischer Sicherheitstruppen zu gehen, die nicht Kadyrows Kontrolle unterliegen. Hinzu kommen vermutlich kriminell motivierte Fälle. Dennoch hat sich die Lage verbessert. Niemand weiß jedoch, wie lange es so bleibt, da Kadyrow jederzeit auch das Gegenteil befehlen kann. Hunderte Fälle bleiben zudem unaufgeklärt, die Täter ungestraft. Mütter suchen bis heute verzweifelt nach ihren Söhnen, Frauen nach ihren Männern und Brüdern. Es wird von etwa 3000 Vermissten ausgegangen.

Trotz der undemokratischen Art, wie Präsident, Regierung und Parlament eingesetzt wurden, hat Ramsan Kadyrow inzwischen offensichtlich die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich, den Rest zumindest nicht offen gegen sich. Gründe dafür gibt es mehrere:

Zum einen sucht Kadyrow begrenzt, aber gezielt auch den Konflikt mit den als Besatzern empfundenen russischen Sicherheitskräften. Das trifft auf die Zustimmung vieler Menschen. Zweitens sieht ein Großteil der  Bevölkerung mangels demokratischer Traditionen den jeweiligen Herrscher als  gegeben an. Verstärkt wird dieser Effekt drittens durch die verbreitete Angst vor Repressalien bei den von mehr als zehn Jahren Krieg erschöpften Menschen. Das Gewaltregime vieler Jahre hat Folgen, derentwegen es immer weniger unmittelbarer Gewalt bedarf. Zur Verbreitung von Angst genügt z.B. das Verbreiten von Foltervideos per Handy, wie berichtet wurde. Viertens führt Kadyrow islamische Traditionen in seine Bemühungen ein, tschetschenisches Selbstbewußtsein neu zu entwickeln, so z.B. läßt er Moscheen bauen und hat ein weitgehendes Alkoholverbot verhängt. Und schließlich hat er, mit Hilfe einer Art Zwangssteuer finanziert, ein rasant umgesetztes Wiederaufbauprogramm angeordnet. Dieses hat geradezu atemberaubend schnelle Ergebnisse. Binnen zweier Jahre wurden mehrere größere Orte nahezu vollständig wiederaufgebaut. Auch Grosny ist zu weiten Teilen wie neu. Die damit verbundene enorme und vor allem sichtbare Verbesserung der praktischen Lebensumstände trägt erheblich zur wachsenden Popularität Kadyrows bei. Viele Menschen erleben diese lange vermißten Erfolge als Geschenk des Despoten.

Wie hier in Gudermes werden in Tschetschenien viele neue Häuser gebaut - häufig mit Bildern von Ramsan (li.) und Vater Achmad Kadyrow (re. mit Kindern und russischem Orden "Held Russlands")

Nicht nur Wohngebäude sind neu oder repariert, sondern z.B. auch Schulen. Der ausländischen Delegation zeigte man erwartungsgemäß neue, extra geschmückte Gebäude mit festlich gekleideten Kindern. Blumen wurden überreicht und Volkstänze aufgeführt. Klar ist jedoch, dass nicht alle Schulen in solch gutem Zustand sind. Marieluise Beck legte Wert darauf, auch eine Einrichtung mit Problemen zu besuchen. Dies war ein Internat für taubstumme Kinder, ein altes Gebäude mit wenig Platz, das obendrein von der Schließung bedroht ist. Trotzdem waren auch dort die Kinder fröhlich und wurden von liebevollen Lehrerinnen betreut.

Bei solchen Besuchen wirkte der Krieg manchmal schon sehr fern, obwohl überall Soldaten und Milizionäre zu sehen waren, die an ihn ernnnerten. Aber die Separatisten sind nahezu aufgerieben und vernichtet. Kleine Gruppen führen zwar im Bergland noch einen Guerillakrieg, sind aber weder politisch noch militärisch wirklich handlungsfähig. Die Islamisten, deren Führer Bassajew 2006 getötet wurde, versuchen den Krieg im ganzen Nordkaukasus zu verbreiten. Das jüngste und in seiner unvorstellbaren Grausamkeit bekannteste Beispiel für diese Strategie war die Geiselnahme von mehreren hundert Schulkindern und ihren Eltern in einer Schule in Beslan im September 2004. Beslan liegt in der benachbarten Republik Nordossetien, eine Stunde Fahrt von der tschetschenischen Grenze entfernt. Der Besuch in der zur Gedenkstätte erklärten Schulruine und auf dem nahegelegenen Friedhof für die weit über 300 Opfer war der deutsche Delegation ein grosses Anliegen und hinterliess tiefen Eindruck. Er machte an den Bildern hunderter ermordeter Kinder, Lehrerinnen, Mütter und Väter sichtbar, was meist nur abstrakt bleibt: Terror, zumal gegen die wehrlosesten und unschuldigsten Mitglieder der Gesellschaft, ist von einer nicht mehr faßbaren, lähmenden Amoralität.

Marieluise Beck in der Gedenkstätte für die Opfer der Geiselnahme von Beslan, Nordossetien

Trotz großer Erfolge beim Wiederaufbau gibt es nach wie vor viele Flüchtlinge innerhalb Tschetscheniens und in den Nachbarrepubliken. Ihre Lage ist nach Jahren in provisorischen Lagern oft sehr schwierig. Hinzu kommt die Ermüdung durch langes Warten in der Perspektivlosigkeit. Die winzige Nachbarrepublik Inguschetien mit einer halben Million Einwohnern hat mehrere hunderttausend Flüchtlinge aufgenommen. Das überfordert, erst recht auf Dauer, ihre materiellen Möglichkeiten. Hinzu kommen Flüchtlinge aus einem anderen, über den Kriegen in Tschetschenien vergessenen Konflikt: der Vertreibung großer Teile der inguschetischen Bevölkerung aus der benachbarten Grenzregion in Nordossetien im Jahre 1992. Sowohl in Inguschetien selbst als auch in Nordossetien erwachsen daraus große Probleme.

Ella Pamfilowa (m.) und Marieluise Beck in einem Flüchtlingslager in Nasran, Inguschetien.

Marieluise Beck besuchte mehrere Flüchtlingslager in allen drei Republiken, ließ sich die Lebensumstände erklären und hörte sich oft genug Beschwerden an – über Arbeitslosigkeit, fehlende Unterstützung durch die Behörden und die Unmöglichkeit, in die Heimatdörfer zurückzukehren. Zwangsumsiedlungen, nicht erfolgte Kompensationszahlungen und unterschiedliche Grade an Anerkennung und Wohnrechten führen seit vielen Jahren zu Dauerkonflikten.

In einem Flüchtlingslager in Grosny, Tschetschenien

Auch in Inguschetien und Nordossetien wirken sich noch immer der Krieg in Tschetschenien und seine Nachwehen aus. Nicht nur Extremisten tragen ihn nach außen, auch der Kampf der russischen Sicherheitskräfte findet seine Grenze nicht am tschetschenischen Schlagbaum. Immer wieder wird auch in den Nachbarrepubliken von Entführungen, von Folter und dem Verschwinden von Flüchtlingen aus Tschetschenien berichtet. Auch hier herrscht Straflosigkeit, wird nicht ermittelt oder nicht angeklagt.

Die Reise hat gezeigt, dass trotz deutlicher Verbesserungen in den letzten Jahren keineswegs von Stabilität und noch weniger von gesicherten Menschenrechten gesprochen werden kann. Dreierlei kann jedoch klar gesagt werden: Die Sicherheitslage ermöglicht Reisen nach Tschetschenien. Eine Überprüfung des von russischer Propaganda erzeugten Bildes ist möglich. Und wir in Deutschland, in Westeuropa können und müssen helfen.

Lesen Sie hier eine kurze Zusammenfassung der Geschichte des Tschetschenienkreigs.

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