Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Geschichte des Tschetschenien-Kriegs

Tschetschenien ist wie der gesamte Nordkaukasus nach langen Kriegen Mitte des 19. Jahrhunderts von Russland erobert und kolonisiert worden. Nach der Oktoberrevoution 1917 wurde eine Autonome Nordkaukasus-Republik gebildet, aber schon nach wenigen Jahren wieder aufgelöst. 1936 schließlich, schon unter Stalin, entstand die gemeinsame Autonome Republik Tschetscheno-Inguschetien. Während des 2. Weltkrieges ließ Stalin etwa die Hälfte der Tschetschenen und Inguscheten deportieren. Erst nach Beginn der Entstalinisierung Ende der 50er Jahre konnten die Überlebenden zurückkehren.

Mit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 sah die nie wirklich verschwundene tschetschenische Unabhängigkeitsbewegung ihre Chance. Dschochar Dudajew, ein ehemaliger General der Roten Armee, erklärte die Unabhängigkeit und wurde zum Präsidenten gewählt. Daraufhin entsandte der russische Präsident Truppen, mußt sie aber auf Geheiß der Duma wieder abziehen. Das Russland gegenüber loyale Inguschetien wurde jedoch von Tschetschenien getrennt. Ende 1994 griffen russlandfreundliche Tschetschenen die Regierung militärisch an. Russische Truppen wurden von Jelzin zu Hilfe geschickt. In dem folgenden brutalen Krieg konnte keine Seite einen klaren Sieg erringen. Deshalb wurde 1996 ein Kompromiß ausgehandelt, der zwar ein Ende des Krieges bedeutete, den Status Tschetscheniens aber nicht klärte. Der Nachfogler Dudajews als Anführer der Separatisten, Aslan Maschadow, wurde in freien und fairen Wahlen zum Präsidenten gewählt. Mit ihm unterzeichnete Jelzin 1997 einen Friedensvertrag.

In der Folgezeit nahmen Kriminalität und Überfälle, auch in den Nachbarregionen, zu. Islamisten wie Schamil Bassajew gewannen Einfluß auf die Regierungspolitik und begannen, ihren Terror über Tschetschenien hinaus auszudehnen. Anschläge und Attentate auch in Russland selbst nahmen zu. Nach einem Überfall der Islamisten auf einige Dörfer im benachbarten Dagestan griffen russische Truppen im Herbst 1999 erneut Tschetschenien an. Ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung wurden Grosny und viele andere Orte dem Erdboden gleichgemacht. Hunderttausende flohen in die Nachbarrepubliken. Im Laufe des Jahres 2000 waren die tschetschenischen Separatisten im wesentlichen geschlagen und gingen zum Guerillakrieg über. Putin setzte Ahmad Kadyrow als Leiter der direkt dem russischen Präsidenten unterstellten neuen Verwaltung ein. Dieser wurde 2003 in einer Wahlfarce zum Präsidenten gewählt und 2004 bei einem Attentat getötet. Sein Nachfolger Alu Alchanow blieb Präsident, bis der Sohn Kadyrows, Ramsan Kadyrow, im Jahre 2006 das verfassungsgemäße Mindestalter von 30 Jahren erreichte, um seinerseits Präsident zu werden. Er wurde von Putin ernannt, ebenso wie die Gouverneure der russischen Regionen.

Das Ende des Krieges in Tschetschenien war nicht das Ergebnis der von uns und vielen anderen Stimmen innerhalb und außerhalb Russlands geforderten Verhandlungen mit den Separatisten. Deren Sprecher war der 1997, zwischen den beiden Kriegen, frei gewählte Präsident Aslan Maschadow. Doch er wurde 2005, unmittelbar nach einem letzten Verhandlungsangebot seinerseits, von russischen Spezialtruppen ermordet. Russland setzte stattdessen weiter auf die kompromißlose Vernichtung aller seiner Feinde. Seitdem haben mehrere Wahlen sattgefunden, darunter 2003 Präsidentschaftswahlen und 2004 ein Referendum, die nichts mit freien und fairen Wahlen zu tun hatten. Alle Kandidaten, die der russischen Regierung bzw. ihren tschetschenischen Helfern nicht genehm waren, wurden systematisch ausgeschaltet.

Die russische Nationalitätenpolitik im Nordkaukasus hat seit dem 19. Jahrhundert ungeachtet der jeweiligen Regierungsform – also vom Zarismus, Stalinismus und  Post-Stalinismus zu Jelzin und Putin - immer eine mehr oder weniger deutliche imperialistische Zielstellung gehabt. Diese bestand und besteht darin, die Völker des Nordkaukasus zu unterdrücken, sie zu spalten und gegeneinander aufzuhetzen. Deshalb hat der Widerstand gegen Rußland nicht nur in Tschetschenien Tradition. Tschetschenien war seit jeher nur der Teil des Nordkaukasus mit dem heftigsten und hartnäckigsten Widerstand. Es besteht die reale Gefahr einer Ausweitung des Konflikts über Tschetschenien hinaus. Nicht die terroristischen Anschläge in Dagestan, Nordossetien und Inguschetien sind der Maßstab dafür, sondern die jeweilige Stimmungsentwicklungen in der Bevölkerung.

Die langandauernden Zerstörungen von Infrastruktur und Gesellschaft, die offensichtliche Perspektivlosigkeit einer friedlichen Entwicklung haben zu einer Radikalisierung geführt, die den Graben zwischen den Nationalismen vertieft und durch den religiösen Aspekt angereichert haben. Das ist das Einfallstor für den Islamismus. Es ist offensichtlich, daß ideologische und finanzielle Einflüsse aus dem arabischen Raum seit dem 1. Tschetschenienkrieg 1994-1996 Boden gewonnnen haben. Spätestens nach dem Ende der islamistischen Basis Afghanistan 2001 wurde Tschetschenien als mögliches Aktionsfeld entdeckt und genutzt. An dieser Stelle – und nur an dieser – besteht die Verbindung zum internationalen Terrorismus.

Es ist jedoch sehr schwierig festzustellen, welchen Stellenwert nationalistischer Separatismus und welchen islamistischer Kampf gegen den Westen oder das Christentum haben. Wahrscheinlich ist, daß letzterer nach wie vor trotz seiner Spektakularität geringere Bedeutung hat als der eher säkulare Nationalismus. Dafür sprechen die Geschichte Tschetscheniens und die relativ gering ausgeprägte Religiosität.

Das Argument der russischen Seite, es handle sich generell um islamistischen Terrorismus, der in Tschetschenien seine Wurzeln habe, ist unglaubwürdig. Die gezielte Gleichsetzung von islamistischem Terror und separatistischem Widerstand ist Propaganda, die der Realität nicht gerecht wird.

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