Auf ihrem Gipfel Mitte Dezember 2011 werden die Staatschefs der EU über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Montenegro und den Kandidatenstatus für Serbien entscheiden. Die Europäische Kommission hatte im Oktober in ihren Fortschrittsberichten beide Länder für ihre Reformerfolge gelobt und entsprechende Schritte vorgeschlagen. Für die anderen Länder der Region - Mazedonien, Albanien, Kosovo und Bosnien und Herzegowina - stellte die Kommission hingegen den Stillstand der Reformbemühungen fest. Besonders Bosnien und Herzegowina leidet auch 16 Jahre nach Kriegsende unter einer nicht funktionierenden Nachkriegsordnung, die den Staatsaufbau enorm erschwert. Gleichzeitig ist das Land mit seiner kulturellen und religiösen Vielfalt für die Stabilität der an ethnischen Spannungen reichen Region von großer Bedeutung. Hier finden Sie Eindrücke von Christoph Becker, Mitarbeiter von Marieluise Beck, von seine Reise Anfang November nach Bosnien und Herzegowina.
Zusammenfassung
Bosnien und Herzegowina ist mit der seit über einem Jahr ausstehenden Regierungsbildung an einem Tiefpunkt der politischen Entwicklung angelangt. Die Drohungen zur Abspaltung der serbisch dominierten Entität Republika Srpska sind im vergangenen Jahr eher noch konkretisiert, die Forderung nach einer dritten, kroatischen Entität wieder lauter geworden. Die Integrität des Gesamtstaats wurde somit weiter untergraben. Neben der ausstehenden Regierungsbildung gibt es auch bei der Umsetzung des Sejdic/Finci-Urteils des EGMR und der damit verbundenen Ablösung des diskriminierenden, ethnischen Wahlsystems seit fast zwei Jahren keine Fortschritte. Entsprechend pessimistisch war die Einschätzung nahezu aller Gesprächspartner. Viele bekundeten, die vorsichtige Zuversicht vergangener Jahre sei inzwischen völliger Hoffnungslosigkeit gewichen.
Ebenso einmütig wurde die Einschätzung geteilt, dass die politische Klasse kein persönliches Interesse an einer weiteren EU-Annäherung habe. Der Status quo sichere ihnen politischen und wirtschaftlichen Einfluss auf Entitätsebene. Dieser würde durch europäische Standards sowie durch die für den transparenten EU-Mitteleinsatz nötigen Strukturen beschnitten. Gleichzeitig sei ein erfolgreicher EU-Beitritt aufgrund der Langwierigkeit für die heute aktive Generation politisch nicht mehr verwertbar. Die ‚soft power‘ der Beitrittsperspektive sei damit als Reformmotor quasi zum Erliegen gekommen.
Ein politischer Wandel aus der Gesellschaft heraus scheint ebenso wenig wahrscheinlich. Trotz enormer sozialer Spannung und offensichtlicher Armut ist das politische Protestpotenzial denkbar gering. Eine glaubhafte politische Alternative ist nicht ansatzweise auszumachen und deren Entstehen aus dem politischen System heraus strukturell außerdem wenig wahrscheinlich. Eine Zivilgesellschaft ist auch zahlenmäßig leider nur marginal vorhanden und erst im Beginn, sich landesweit zu vernetzen. Ihre Vertreter beklagen zudem, dass die Bevölkerung nicht zu aktivieren sei. Die Menschen seien von ethnischer Propaganda verängstigt, fühlten sich ohnmächtig oder würden von autoritären Gesellschaftsstrukturen an politischem Engagement gehindert. Zudem ist eine von der Politik unabhängige Medienlandschaft als weitere demokratische Säule kaum vorhanden.
Vor diesem Hintergrund ist mit einer Reformierung des Landes aus sich selbst heraus kaum zu rechnen. Für den angestrebten EU-Beitritt ist die Überwindung des Dayton-Abkommens hin zu einer demokratischen Verfassung jedoch unumgänglich. Reformimpulse müssen daher wieder stärker von der internationalen Gemeinschaft ausgehen, zumal diese für das dysfunktionale Dayton-System mit verantwortlich ist. Die EU braucht dringend ein Konzept für eine aktive Politik gegenüber Bosnien und Herzegowina. Das Instrumentarium der Erweiterungsbürokratie ist hierfür nicht ausreichend. Auch das exekutive Mandat für ALTHEA und das OHR samt Bonn Powers sollte nicht voreilig aus der Hand gelegt werden, solange im Land nicht ein beständiges und demokratisches System etabliert wurde.
Im Einzelnen
Vom 2. bis 5. November 2011 reiste ich zur Teilnahme an einer Konferenz über die europäische Integration des Landes und für Treffen mit Vertretern der Zivilgesellschaft nach Bosnien und Herzegowina. Über die kroatische Hauptstadt Zagreb führte mich die Reise zunächst nach Banja Luka und im Anschluss nach Sarajevo. Banja Luka und Sarajevo sind jeweils die Hauptstädte der beiden Entitäten, der serbisch dominierten Republika Srpska und der bosniakisch-kroatisch dominierten Föderation Bosnien und Herzegowina. Sarajevo ist als mit Abstand größte Stadt zugleich die Hauptstadt des Gesamtstaats und wirtschaftliches Zentrum des Landes.
Armut und Rückständigkeit der Infrastruktur
Die Kriegsfolgen sind in den Städten kaum noch zu erkennen. Jedoch gibt es einige ländliche Regionen, etwa um das nordbosnische Derventa, in die die geflüchtete Bevölkerung nach dem Krieg nicht zurückkehrte. Zwischen zerschossenen und inzwischen überwucherten Bauruinen herrscht eine bedrückende Atmosphäre.
Wirtschaftlich und sozial befindet sich das Land in einer sehr angespannten Lage. Laut jüngstem Bericht der Weltbank leben 50 % der Bevölkerung an der Grenze oder unterhalb des Existenzminimums. Die offizielle Arbeitslosigkeit liegt bei 40 %, wenngleich diese Zahl eine nennenswerte Schattenökonomie nicht mit berücksichtig. Laut Fortschrittsbericht der EU stellen die Transferzahlungen der bosnischen Diaspora weiterhin einen erheblichen Teil des Bruttosozialproduktes dar. Die weit verbreitete Armut ist in Banja Luka und im ländlichen Gebiet deutlich sichtbar, in Sarajevo hingegen weniger. Offensichtlich verarmte ältere Menschen bieten vor Markthallen oder auf Caféterrassen selbst gestrickte Strümpfe, wenige Gartenfrüchte oder selbst gebasteltes Dekor für Hausaltäre an. In den Dörfern dominieren auch aufgrund der gebirgigen Tektonik kleine und kleinste Ackerflächen. Statt Rinderherden sind einzelne, angepflockte Kühe oder auch Schweine mit einem Eimer Wasser daneben vorherrschend. Gesprächspartner berichteten, die meisten Bauern betrieben Subsistenzwirtschaft.
In den vergangenen 16 Jahren seit Kriegsende ist der Ausbau der Infrastruktur kaum vorangekommen. Bis jetzt existieren von den geplanten Autobahnen nur wenige Kilometer zwischen Sarajevo und Zenica sowie wenige hundert Meter Autobahn nördlich von Banja Luka. Seit über einem Jahr stehen die Arbeiten still, nachdem der Hauptbauträger insolvent ging. Die beiden Eisenbahnstrecken Ploce-Mostar-Sarajevo-Doboj und Bihac-Banja Luka- Doboj-Zvornik sind als Verkehrsmittel kaum brauchbar. Eine internationale Anbindung existiert kaum. Ihr Betrieb ist äußerst unzuverlässig, viele Teilstrecken sind nur einspurig und reparaturbedürftig. Die beiden Entitäten führen jeweils eigene Eisenbahnunternehmen ohne gesamtstaatliche Struktur. An der Grenze zwischen den Entitäten werden die Lokomotiven umgespannt. Entsprechend wird die Eisenbahn kaum genutzt, auch aus Sorge vor Überfällen in den meist leeren Zügen. Das Verkehrsrückrat stellen die vielen Busverbindungen dar, die wegen des schlechten Straßennetzes langsam und unkomfortabel sind. Von Banja Luka nach Sarajevo, einer Strecke von 260 km, benötigt der Bus sechs Stunden. Eine Flugverbindung zwischen beiden Städten existiert nur als Zwischenstopp für internationale Verbindungen und kann nicht separat gebucht werden.
Politische Blockade der Regierungsbildung
Bosnien und Herzegowina ist seit über einem Jahr ohne Regierung. Die Verfassung auf Grundlage des Daytoner Friedensvertrages fördert strukturell ethnisch-nationalistische Parteien und Politiker. Die einflussreichsten Parteiführer haben offensichtlich kein gesteigertes Interesse an der Regierungsbildung auf Gesamtstaatsebene, zumal Geld und Einfluss eher auf Ebene der Entitäten zu finden sind. Die größten Parteien der bosnischen Kroaten, HDZ BiH und HDZ 1990 BiH, boykottieren die Regierungsbildung des Gesamtstaats. Grund hierfür ist der Ausschluss beider von der Regierung auf Entitätseben. Die sich multiethnisch gebenden Sozialdemokraten um Slatko Lagumdzija (SDP) und die bosniakische SDA um Bakir Izetbegovic hatten durch Koalition mit radikalen kroatischen Splitterparteien das Quorum zur Beteiligung kroatischer Parteien auch ohne die HDZ-Parteien erreicht. Die beiden ausgeschlossenen kroatischen Parteien finden in ihrem Boykott Unterstützung durch den Präsidenten der Republika Srpska, Milorad Dodik. Dieser diffamiert seit Jahren den Gesamtstaat als nicht funktionsfähig und überflüssig. Wiederholt drohte er mit Referenden zur Abspaltung der serbisch dominierten Entität. Theoretisch könnte das Land bis zur nächsten Wahl 2014 ohne Regierung bleiben, da das Gesetz keine Fristen für Neuwahlen vorsieht. Das Ausbleiben der Regierungsbildung bedeutet jedoch einen Stillstand der nötigen Reformbemühungen für die angestrebte EU-Annäherung. So ist das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen (SAA) mit der EU zwar ratifiziert, die Inkraftsetzung jedoch derzeit ausgesetzt. Die EU verlangt zunächst eine Reform des Wahlgesetzes zur Umsetzung des Urteils des Menschenrechtsgerichtshof im Fall Sejdic und Finci gegen BiH, das Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention durch ethnischen Proporz bei der Wahl der Präsidentschaft und des Hauses der Völker festgestellt hatte. Weiterhin ist für das SAA ein Beihilfegesetz zur Verhinderung wettbewerbsverzerrender Subventionen und ein Zensus zur sozialpolitischen Steuerung von EU-Mitteln Voraussetzung. An beiden Maßnahmen haben die Politiker wenig Interesse, weil diese Teile ihre Machtstrukturen beschneiden.
Hoffnungsträger Lagumdzija enttäuscht
Im Land weit verbreitet ist eine Enttäuschung über Slatko Lagumdzija und seine sozialdemokratischen Partei SDP. Er hatte im Wahlkampf eine Überwindung der ethnischen Teilung und eine Abkehr von der verbreiteten Korruption in der Politik propagiert. Mit seinem Wahlsieg in der Föderation regte er Hoffnungen auf einen Politikwechsel. Statt dessen habe sich Lagumdzija nach Übernahme der Regierung der Föderation nahtlos in die politische Tradition seiner Vorgänger eingefügt und bediene inzwischen ebenso reine Macht- und Klientelpolitik. Inzwischen sei der Apparat weitgehend durch Vertreter seiner Partei besetzt und das staatliche Fernsehen unter politische Kontrolle gebracht. Jedoch könne man ihn nicht ohne weiteres zu Milorad Dodiks Spiegelbild erklären, wie dies vor allem ausländische Beobachter gern täten.
Viele Gesprächspartner äußerten die Einschätzung, dass die bestehende politische Führung über alle ethnische Grenzen hinweg kein persönliches Interesse an einer EU-Annäherung habe. Die Einführung von transparenten EU-Standards ginge automatisch mit dem Verlust an Einfluss und Macht der herrschenden Eliten einher. Auch der Erfolg eines EU-Beitritts könne nicht politisch verwertet werden, da dieser wegen der Langwierigkeit des Beitrittsprozesses eher für die folgende Politikergeneration zu erwarten sei. Wegen ausbleibender Fortschritte tendiere die EU selbst dazu, die Situation in BiH zu beschönigen.
Autoritäre Gesellschaft in der Republika Srpska
Die Gesprächspartner in der Republika Srpska beschrieben eine Atmosphäre der Angst, die die Menschen von politischem Engagement abhalte. Milorad Dodik habe die Entität politisch, wirtschaftlich und medial fest in seiner Hand. Die Leute hätten Angst um die wenigen Arbeitsplätze. Drazana Lepir von der Organisation Oštra Nula (dt.: Scharfe Null) berichtete über Versuche, über ihren Arbeitgeber Druck auszuüben, geplante Demonstrationen abzusagen. Zugleich wurde ihre Organisation zur Zahlung einer Verwaltungsstrafe verurteilt, die ohne internationale Unterstützung das wirtschaftliche Aus der Organisation bedeutet hätte. Drazen Crnomat von der Organisation Geto (dt.: Ghetto) beklagte, dass die Bevölkerung kaum zu politischem oder zivilgesellschaftlichem Engagement zu bewegen sei. Zum Gefühl der Angst geselle sich das der Ohnmacht, an den bestehenden Verhältnissen nichts ändern zu können. Nicht einmal die junge Generation sei bereit, sich wegen der bestehenden Perspektivlosigkeit für die eigene Zukunft einzusetzen. Beide Aktivisten berichteten, dass die Teilung des Landes in den Köpfen der Leute und selbst in der Zivilgesellschaft manifest sei. Die unterschiedliche Geschichtsschreibung etwa der Schulbüchern und in den zwei Schulen unter einem Dach in der Föderation befördere diese Entwicklung. Es gebe keine landesweit agierenden zivilgesellschaftlichen Organisationen oder nennenswerte Kooperationen zwischen diesen. Sie berichteten über die neue, landesweite Koalition lokaler Organisationen, die sich unter dem Namen K143 für eine Stärkung der lokalen Selbstverwaltung einsetzt und von der Heinrich Böll Stiftung unterstützt wird. Die Koalition wolle auf diese Weise die politische Blockade durch die ethnischen Parteien über Entitätsgrenzen hinweg überwinden helfen.
Dodiks Sezessionsdrohungen als reiner Bluff
Auch die Leiterin des Büros der Friedrich Ebert Stiftung in Banja Luka, Tanja Topic, ist öffentlichen Anfeindungen und politischem Druck ausgesetzt. Ihrer Ansicht nach existiert wie im gesamten Land auch in der Republika Srpska (RS) keine unabhängige Justiz. Korruptionsermittlungen gegen hochrangige Politiker wie Milorad Dodik und Slatko Lagumdzija seien von der Gesamtstaatsebene an die Entitäten überwiesen und dort eingestellt worden. Der Abzug internationaler Richter und Staatsanwälte der Antikorruptionsabteilung des bosnischen Staatsgerichts Ende 2009 sei ein fataler Fehler der internationalen Gemeinschaft gewesen. Dies hatte Dodik während eines laufenden Verfahrens gegen ihn selbst erfolgreich politisch erpresst. Laut Tanja Topic seien die wiederkehrenden Sezessionsandrohungen Dodiks nie realistisch gewesen. Er wisse, dass seine Verbündeten Russland und selbst Serbien einen solchen Schritt nicht tolerieren würden. Serbien habe weder ein Interesse daran, sich die strukturschwache RS einzuverleiben, noch sei ein solcher Schritt für die Bevölkerung der RS und Dodik wegen bestehender Ressentiments in Serbien besonders reizvoll. Dodik könne mit dem Status quo als quasi königgleicher Herrscher der Republika Srpska am besten leben. Das Eingehen der internationalen Gemeinschaft auf Dodiks Drohungen sei nicht nur fahrlässig, sondern auch unnötig gewesen. Jedoch habe die dauerhafte Sezessionspropaganda Dodiks in den Köpfen der Bevölkerung Spuren hinterlassen. Inzwischen sei der Gesamtstaat in den Augen der serbischen Bevölkerung völlig diskreditiert und die ethnische Teilung weiter vertieft worden.
Allgegenwärtig: Gedenksteine an die Opfer des Kriegs 1992 bis 1995.
Schlechte Bildung erleichtert Manipulation der Wähler
Das politische System sei laut Tanja Topic auch Folge schlechter Bildung. Sie verwies darauf, dass in der Republika Srpska 9 % der Bevölkerung Analphabeten seien und 33 % nur acht Klassen oder weniger absolviert hätten. Noch heute gingen in manchen ländlichen Regionen Kinder gar nicht zur Schule. Der schlecht gebildete Bevölkerungsteil sei für Propaganda der politisch kontrollierten Medien besonders empfänglich. Kritische Bürger gingen aufgrund eines Ohnmachtsgefühls häufig gar nicht zu Wahl. Verwaltungsangestellte würden unter Druck gesetzt, für Milorad Dodik zu stimmen. Bei einer Wahlbeteiligung von nur rund 50 % sei die konstante Unterstützung für ihn daher nicht verwunderlich. Politische Alternativen existierten wie im gesamten Lande ohnehin nicht. Auch die Oppositionsparteien im Parlament der Republika Srpska folgten mehr oder weniger radikal Dodiks Sezessionspolitik. Mit einem Protestverhalten der Wähler sei kaum zu rechnen.
Politische Abhängigkeiten der Medien
Die beiden Sender des öffentlich-rechtlichen Fernsehen der Entitäten seien fest unter politischer Kontrolle. Der landesweite TV-Sender arbeite zwar durchaus unabhängig, sei aber ebenfalls starkem politischen Druck ausgesetzt. Ein von der internationalen Gemeinschaft verlangter vierter Sender für den Gesamtstaat existiere bisher nur auf dem Papier. Der regionale Sender Alternativna Televizija in Banja Luka, vom Ausland finanziert, erfreue sich hoher Einschaltquoten und zeige das Interesse an unabhängiger Berichterstattung.
Landesweites Netzwerk der Zivilgesellschaft
Die in Sarajevo ansässigen Aktivisten Alen Tatić, Akcija Građana (Bürgeraktion), Darko Brkan, Organisation Zašto Ne (Warum nicht), und Saša Gvrica, Sarejevo Open Centre, teilten die pessimistische Einschätzung zur bosnischen Zivilgesellschaft. Alen Tatić berichtete über Versuche, gemeinsam mit acht Gewerkschaften Proteste zu organisieren. Obwohl die betroffenen Arbeiter seit Monaten keine Gehälter erhalten hätten, seien selbst diese zu einem offenen Protest nicht zu bewegen gewesen. Die Organisationen von Alen Tatić und Darko Brkan beteiligen sich an der Koalition K143, deren Name für die 143 Gemeinden des Landes steht. Ziel der Koalition ist, die Politik möglichst bürgernah, pragmatisch und erfahrbar auf lokaler Ebene zu gestalten. Dadurch soll die Bevölkerung zu mehr Teilhabe bewogen und bei der Überwindung der politischen Blockaden geholfen werden. Längerfristig soll eine Transferierung von Kompetenzen der Entitäten auf die lokale Ebene erreicht werden. Zugleich setzt sich die Koalition für mehr Kompetenzen des Gesamtstaates ein, soweit dies im Interesse der Kommunen liegt. So fordern sie ein Agrarministerium auf Gesamtstaats- statt auf Entitätsebene, um den Export von Lebensmitteln in die EU und die Erreichung entsprechender Richtlinien zu erleichtern.
Schwierige Debattenkultur im bosnischen Parlament
Eine Konferenz der Foreign Policy Initiative am 4. November 2011 im bosnischen Parlament widmete sich der Rolle des Parlaments im EU-Beitrittsprozess. Hierzu wurden Parlamentarier aus benachbarten Ländern eingeladen, über ihre zum Teil weitergehenden Erfahrungen in der EU-Annäherung zu berichten. Der britische Botschafter Nigel Casey mahnte, die drei Bedingungen für die Inkraftsetzung des SAA bis zum Dezembergipfel der EU zu erfüllen. Andernfalls werde das Land weit hinter die Nachbarn zurückfallen. Die kroatische Oppositionsabgeordnete und Vorsitzende des EU-Ausschusses, Vesna Pusić, verwies auf die durch die kroatischen Beitrittsverhandlungen vorliegenden Übersetzungen des EU-Acquis, die nun für die gesamte Region des serbokroatischen Sprachraums nutzbar sei.
Unter den anwesenden bosnischen Parlamentariern zeigte sich die unversöhnliche Haltung der politischen Parteien und ihre schwierige, häufig demagogische Debattenkultur. Einige verweigerten sich der Übernahme politischer Verantwortung mit Verweis auf die exekutiven Befugnisse des OHR. Das SAA wurde in dieser Lesart weniger als Chance für Vertiefung der Wirtschaftsbeziehungen denn als Einverleibung des bosnischen Absatzmarkts durch die EU, der die bosnische Wirtschaft ungeschützt ausgesetzt sei. Andere Abgeordnete verwehrten sich vehement den Erfahrungen der Nachbarstaaten und verwiesen auf die Notwendigkeit eines eigenständigen Wegs wegen der besonderen Struktur des Landes. Dem gegenüber beklagten Abgeordnete, dass die führenden fünf, sechs Politiker über die Zukunft des Landes entschieden, jedoch als Kriminelle kein Interesse an einer EU-Annäherung und der damit verbundenen Transparenz hätten.
Der Vizepräsident des mazedonischen Parlaments, Jani Makraduli, mahnte an, dass die Dynamik für eine EU-Annäherung aus der Region selbst kommen müsse. Die EU sei wegen der Schulden- und Eurokrise zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Allseits befremdlich wurden der Auftritt des montenegrinischen Abgeordneten Miodrag Vuković und dessen abfällige Äußerungen über die offensichtlich als lästig empfundene Zivilgesellschaft aufgenommen.
Jerzy Buzek fordert mehr Bürgerengagement
Kurzfristig wurde für den Abend des 4. November 2011 von der Konrad Adenauer Stiftung eine Diskussion mit dem Präsidenten des Europäischen Parlaments, Jerzy Buzek, über die Rolle von Parlament und Zivilgesellschaft für die Demokratisierung Europas angesetzt. Buzek berichtete von seinen zuvor geführten Gesprächen mit den wichtigsten Parteiführern des Landes. Diese Gespräche hätten ihm gezeigt, dass es höchste Zeit sei, dass die Zivilgesellschaft politische Verantwortung übernehme und die Politik zur Regierungsbildung und den nötigen Reformen dränge. Das Land könne so nicht weitermachen. Die Bevölkerung müsse den Politikern Druck machen, ihr Handeln überprüfen. Die Politiker müssten fürchten, bei kommenden Wahlen nicht wiedergewählt zu werden. Buzek erregte im Publikum teilweise Unmut wegen seiner als unangemessen empfundenen, fordernden Haltung, aber auch, weil seine Appelle nach Ansicht vieler an den bosnischen Realitäten vorbei gingen.