Krieg, Flucht und Leid wie vor über 60 Jahren
Blickpunkt Tschetschenien: Lesung und Gespräch mit der Moskauer Historikerin Irina Scherbakowa in der Blumenthaler Bücherstube
Aus dem Weserkurier vom 5.Juni 2008 von Gabriela Keller
BLUMENTHAL. Irina Scherbakowa schlägt das Buch auf und beginnt zu lesen. Die Geschichte einer Großmutter, aufgeschrieben von ihrer Enkelin. Es sind Erinnerungen an die Vertreibung durch die Russen aus der Heimat Tschetschenien und die Deportation nach Kasachstan im zweiten Weltkrieg. Während Scherbakowa aus den Aufzeichnungen der Enkelin liest, wird dem Zuhörer klar: Im Schicksal der Großmutter spiegelt sich das Leid eines Volkes.
Was haben die Erinnerungen einer alten Frau an Erlebnisse vor mehr als 60 Jahren mit dem Tschetschenien von heute zu tun? Man kann, sagt die Historikerin Irina Scherbakowa, den Wunsch der Tschetschenen nach Unabhängigkeit nur verstehen, wenn man zurückblickt in die Geschichte. Der 23. Februar 1944 war der Tag der Deportation. Ein ganzes Volk wurde damals als vermeintliche Kollaborateure der Nazis von der Roten Armee vertrieben und ausgesiedelt, vor allem nach Kasachstan.
Geschichte wiederholt sich
Wie sich Vergangenheit und Gegenwart in Tschetschenien verweben, zeigte Irina Scherbakowa am vergangenen Montagabend in der Blumenthaler Bücherstube auf. Marieluise Beck, Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen, hatte die Professorin für Zeitgeschichte aus Moskau eingeladen. Angekündigt war eine Lesung aus dem Buch Zu wissen, dass du noch lebst. Scherbakowa, Mitglied der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial, hat die Erzählungen von Kindern aus Tschetschenien mit herausgegeben. Zwei Geschichten aus dem Buch bildeten den Rahmen für ein Gespräch, das den Bogen spann von Hintergründen der jüngsten Kriege in Tschetschenien bis zur aktuellen Lage in der autonomen Republik.
Der erste Einmarsch russischer Truppen 1994 und der zweite Krieg ab 1999 verbinden sich laut Scherbakowa im Gedächtnis der Generationen mit der Geschichte der Deportation. 60 Jahre später erlebten die Enkel, was ihre Großeltern damals erlitten hatten: Krieg und Flucht. Heute sei es ruhig geworden um Tschetschenien. Warum? Die Historikerin aus Moskau, die derzeit als Gastprofessorin am Osteuropa-Institut der Universität Bremen lehrt, und Beck hatten mehrere Erklärungen parat. Das Thema Tschetschenien wird in Russland verdrängt. Nicht nur die laut Scherbakowa traumatisierten russischen Soldaten wollen den Mantel des Vergessens über die schrecklichen Kriegsereignisse legen. Dem Kreml sei es gerade recht, wenn das Schicksal der unabhängigen Republik und seiner Menschen nicht im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit stehe. Den Russen selber gaukle das staatlich kontrollierte Fernsehen mit Bildern von Paraden, Rockkonzerten und Schönheitswettbewerben den Schein von Normalität in Tschetschenien vor. Das Putin- Regime gibt sich laut Beck einen modernen Anstrich, hinter dem sich die zentrale Steuerung und Manipulation durch kleine Machtgruppen leichter verbergen lässt.
Öffentliche Aufmerksamkeit
Was Tschetschenien brauche, sei öffentliche Aufmerksamkeit im Europarat und in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Nur so lässt sich laut Beck ein Minimum an Schutz für die Menschen und die von Russland drangsalierten Oppositionellen wie die Organisation Memorial erreichen. Was kümmert mich als Deutscher das ferne Tschetschenien? Auf die provokante Frage eines Zuhörers lieferte die Bundestagsabgeordnete eine Antwort. Sie richtete den Blick von der autonomen Republik weiter über Afghanistan bis nach Pakistan. Tschetschenien ist laut Beck ein Mosaikstein im Versuch islamistischer Extremisten, Einfluss in der Region zu gewinnen. Es kann westlichen Demokratien nicht egal sein, was in den moslemischen Ländern in diesem Gürtel passiert.