Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Interview mit gruene.de: Keine Eishockey WM in Lukaschenkos Diktatur

Die Hinrichtung der beiden Männer, die nach Ansicht des Lukaschenko-Regimes 2011 einen Anschlag auf die Minsker U-Bahn verübt haben sollen, bezeichnet Marieluise Beck als "zynisches Staatsverbrechen" und fordert konsequentere Sanktionen gegen Weißrussland. Vor allem dürfe Lukaschenko nicht mit der Eishockey WM 2014 eine internationale Bühne bekommen, auf der er sich präsentieren kann, so die Grüne Bundestagsabgeordnete, die Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und Sprecherin für Osteuropapolitik ist.

gruene.de: Du hast Ljubow Kowaljowa, die Mutter eines der jetzt hingerichteten Männer, denen ein Anschlag auf die Minsker U-Bahn im April 2011 vorgeworfen wird, im Januar in Straßburg kennen gelernt. Wie hast Du sie erlebt?
Marieluise Beck: Einerseits hat mich ihre äußerliche Erscheinung getroffen - abgemagert und so gezeichnet von diesem Alptraum, der sie seit einem Dreivierteljahr begleitet. Andererseits war sie aber auch unglaublich diszipliniert und hellsichtig. Ich hatte das Gefühl, durch diese Gefahr ist ihr Kopf so analytisch, rational und klug geworden, dass sie über sich hinauswächst und extrem mutig ist. Man muss sich klarmachen, sie ist eine Fabrikarbeiterin, die aus dem tiefsten Belarus, also Weißrussland kommt. Ich weiß nicht, ob sie jemals zuvor in einem Flugzeug gesessen hat. Und dann nimmt sie alle Kraft zusammen und kommt in den Europarat nach Straßburg.

Hatte sie noch Hoffnung, ihren Sohn in Freiheit wiederzusehen?
Ja. Ich glaube, sie konnte sich nicht vorstellen, dass es eine so gnadenlose Willkür geben könnte. Und ihr war bereits bewusst, ihr Sohn wurde täglich gequält und gefoltert und hatte dabei fast den Lebensmut verloren. Als die Mutter von einem der zehnminütigen Treffen mit ihrem Sohn erzählte, schilderte sie auch, wie sie sich dafür einsetzen wollte, dass er die Handschellen nicht auch noch stets in seiner Zelle tragen muss. Aber ihr Sohn Wladislaw winkte nur noch müde ab. Das hat mich unglaublich an Fotos aus dem Stalinismus erinnert, diese leeren Augen der Menschen, die gebrochen sind und wissen, dass sie überhaupt keine Chance haben. Die drohende Hinrichtung war bei Ljubow Kowaljowa gar nicht so präsent, vielmehr diese Qualen, unter denen ihr Sohn zu leiden hatte.

Welchen Eindruck konntest Du über diese sehr persönliche Perspektive von dem Lukaschenko-Regime in Weißrussland gewinnen?
Ich konnte nichts erfahren, was mir politisch neu gewesen wäre. Im Grunde wurde bestätigt, was in Vergessenheit geraten war. Und genau das ist das Problem mit solchen diktatorischen Regimes. Man entscheidet sich in der Politik irgendwann, mit solchen Regimes in irgendeiner Form in Dialog zu treten. In der Hoffnung, damit Liberalisierungen zu fördern, die auch der Opposition wieder Chancen eröffnen, sich zu bewegen und zu arbeiten. Denn nicht miteinander zu reden, hilft auch nicht weiter. Also hat die internationale Politik das Wissen zur Seite geschoben, dass in den Jahren 1999/2000 vier Menschen aus dem engsten Umfeld Lukaschenkos verschwunden sind und von deren Exekution man ausgehen muss. Außerdem gibt es ausgesprochen detaillierte Berichte, die als Belege dafür dienen könnten, dass dieses Verschwindenlassen vom Lukaschenko-Regime organisiert worden sind. Der Europarat hat das 2004 zurückhaltend in einem Bericht selber formuliert, ohne jedoch den Namen Lukaschenko zu nennen. Die aktuellen Entwicklungen, also die Explosion in der U-Bahn, die Verhaftungen, der rasante Prozess, die Vernichtung von Beweismitteln belegen, dass sich die Vorgänge von vor zehn Jahren wiederholen – nach einer Phase der leichten Abschwächung von Druck gegenüber der Bevölkerung. Das ist bitter.

Du hast jetzt gerade von Dialog gesprochen, aber wie geht es zusammen, dass die EU im Mai 2009 Weißrussland in die Östliche Partnerschaft aufgenommen und der Rat der Europäischen Union im Juni 2011 ein Waffenembargo verhängt hat?
Es hatte nach den Entführungen, von denen ich gerade erzählt habe, eine Politik der großen Distanz gegeben, die aber nicht wirklich dazu führte, dass Lukaschenko mehr Freiheiten in seinem Land zulässt. Als dann die EU jenen Ländern eine Zusammenarbeit anbot, bei denen ein Beitritt gar nicht zur Debatte steht, aber eine Annäherung an die EU gewünscht ist, hat man auch Belarus mit in das Programm aufgenommen. Damit war unter anderem auch Geld für zivilgesellschaftliche Projekte verbunden, und die NGOs aus Belarus haben uns die Rückmeldung gegeben, dass es bei der Arbeit und der Vernetzung geholfen hat. Also ist dieser scheinbar schizophrene Schritt der Anerkennung, der gleichzeitig ein Nachlassen des politischen Drucks bedeutet, schon vertretbar. Das Waffenembargo ist notwendig, weil Weißrussland ein internationaler Player im Waffenhandel und Waffen-Schwarzhandel ist. Bis hin zu der Vermutung, dass weißrussische Atomphysiker das iranische Atomprogramm mit vorantreiben. Schurken unter sich.

Ljubow Kowaljowa bezeichnet die Hinrichtung der beiden Männer als Justizmord. Du nennst es ein „großes, zynisches Staatsverbrechen“. Warum glaubst Du, dass die zwei Männer unschuldig sind?
Wenn man die Beweissituation noch einmal vollständig und detailliert nachvollzieht, kommt man zu folgenden Facetten: Es gibt da zwei junge Männer mit einfacher Bildung aus einer Provinzstadt in Belarus. Es passiert ein Sprengstoffattentat mit einer hohen Wucht, also auch einer großen Kompetenz in Planung und Umsetzung. Diese beiden jungen Männer halten sich in der Stadt auf, weil sie für drei Tage eine Sause mit zwei jungen Frauen machen und werden wegen nächtlicher Ruhestörung von den Nachbarn angezeigt und zur Polizei gebracht – wenige Stunden nachdem der Anschlag passiert ist. Dann folgt eine Nacht der Folterung und am nächsten Tag tritt Lukaschenko vors Volks und verkündet: Es gab eine große Gefahr, aber ich habe die beiden Täter gefasst und konnte euch so beschützen. Es ist nie behauptet worden, dass sich Wladislaw Kowaljow in der U-Bahn befunden hat. Es gibt nur eine Aussage von einer der beiden Frauen, der zweite Mann, Dmitrij Konowalow, soll eine Stunde, genau zur Zeit des Anschlages, weg gewesen sein. Diese eine Stunde würde aber gar nicht ausreichen, um von der Wohnung zu der U-Bahn zu kommen, einen Sprengstoff-Anschlag zu verüben und dann wieder zurückzukehren. Es gab manipulierte Videos im Verfahren, und einen Zeugen, der aussagte, er habe keinen der Männer in der U-Bahn gesehen. Die von der Staatsanwaltschaft angeführte Person mit schwarzen Aktenkoffer sei nicht in der U-Bahn gewesen. Also, Beweismittel wurden vernichtet und die beiden Männer wurden in ungewöhnlich schneller Geschwindigkeit hingerichtet. Deswegen spreche ich von einem Staatsverbrechen.

Würdest Du soweit gehen und wie einige andere behaupten, der Sprengstoff-Anschlag wurde von dem Lukaschenko-Regime inszeniert, um anschließend den starken Mann markieren zu können?
Das kann ich nicht sagen. Nach einem großen Wahlbetrug, nach der Zerschlagung der Opposition und in einer Zeit, in der das Regime dabei war, ökonomisch zu implodieren, gab es eine riesige Inflation, die Gehälter halbierten sich und die Bevölkerung begann Vorrate zu hamstern. In so einer Atmosphäre passt einem diktatorischen Regime eine von außen kommende Gefahr sehr gut. Mehr kann ich nicht sagen.

Wir sitzen hier in Deinem Büro gegenüber der russischen Botschaft. Hast Du mal geklingelt und Russland gebeten, sich für die Angeklagten einzusetzen?
Ja, ich hatte einen Termin mit dem russischen Botschafter, mit dem ich trotz aller Differenzen ein sehr offenes und auch von Respekt getragenes Verhältnis habe. Ich habe ihm dann auch das Gesprächsprotokoll meines Treffens mit Ljubow Kowaljowa übergeben. Ich habe aber auch zwei Sitzungen des Europarates genutzt, um dort die russischen Delegationen in den Debatten zu Belarus aufzufordern, ihre Einflussmöglichkeiten zu nutzen und die Hinrichtungen zu verhindern. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates hat mit überwältigender Mehrheit empfohlen, dass alle Mitglieder des Europarates gemeinsam in eine Sanktionspolitik gegenüber Belarus einsteigen. Die russische Seite hat argumentiert, diese Sanktionen würden den Zugang zum Regime versperren, und sie würden deswegen nicht mitmachen. Diese Argumentation könnte man ernst nehmen, wenn dieser Zugang denn auch genutzt werden würde. Wenn aber zugeschaut wird, wie dieses Verbrechen geschieht, will man entweder die Zugänge nicht nutzen oder man hat sie vielleicht gar nicht. Eine Schlussfolgerung meinerseits: Wer den tschetschenischen Machthaber Kadyrow aushält, hält natürlich auch einen Lukaschenko aus.

Weißt Du, wie es Ljubow Kowaljowa jetzt geht, nachdem ihr Sohn und sein Freund hingerichtet worden sind?
Ja, ich habe sofort Kontakt aufgenommen. Das geht dank Email und der Russischsprachkenntnisse meines Büros sehr schnell. Mein Kreisverband hat die Patenschaft für die Mutter und ihre Töchter übernommen, es gehen Briefe hin und her, es werden Pakete gepackt. Ich weiß aus langjähriger Erfahrung, dass es selbst bei solch unfassbar tragischen Situationen trotzdem helfen kann, wenn die Menschen spüren, es gibt da draußen jemanden, den die ganze Sache beschäftigt. Man hat auch nur zwei Möglichkeiten, auf eine derartige Situation zu reagieren: Entweder man wird gebrochen und geht den Weg in die Depression. Oder man wird aktiv und kämpft. Ich glaube Ljubow Kowaljowa schafft das. Sie und ihre beiden Töchter sagen, sie wollen kämpfen. Ich habe viele Jahre mit einer Frau in Usbekistan zusammengearbeitet, deren Sohn ebenfalls hingerichtet worden war. Sie hat nicht nur für die Rehabilitierung ihres Sohnes sondern auch für die Abschaffung der Todesstrafe gekämpft. In Usbekistan ist die Todesstrafe mittlerweile abgeschafft und danach hat die Frau das Land verlassen.

Im März hat Weißrussland den Zuschlag für die Eishockey WM 2014 bekommen. Darf man es diesem Land erlauben, sich öffentlichkeitswirksam als Veranstalter eines großen Sportereignisses zu präsentieren?
Wir wissen, es ist Alexander Lukaschenko wichtig, sich als großer Imperator bei diesen Festspielen zu präsentieren. Ich weiß, der Boykott von Sportereignissen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist eine heikle Angelegenheit. Ich kenne das Argument, man habe auch in China die Olympischen Spiele stattfinden lassen, wo sich die Zahl der Hinrichtungen während der Spiele verdoppelt hat. Aber Weißrussland liegt mitten in Europa. Und der europäische Konsens lautet unter anderem: keine Todesstrafe. Weißrussland ist das einzige europäische Land, dass die Todesstrafe vollstreckt. Vor kurzem erfuhr ich auch noch, dass Lukaschenko dem Nationalen Olympischen Komitee vorsitzt. Da musste ich ganz schön schlucken. Sport ist in Weißrussland Chefsache und wird missbraucht, um dem verbrecherischen Regime Prestige zu verschaffen. Deswegen bin ich der Meinung, wir müssen ein anderes Land finden, in dem die Eishockey WM 2014 ausgetragen wird.

Was muss politisch etwa von Seiten der Europäischen Union im Umgang mit Weißrussland passieren?
Die Europäische Union hat sich entschieden, der Schaukelpolitik von Lukaschenko, die nicht zur inneren Freiheit geführt hat, ein Ende zu setzen und den Rücken gerade zu machen. Jahrelang hat sich Lukaschenko mal dem Westen zugewandt, um dort einen Kredit zu bekommen, mal Russland, um dort billiges Gas zu ordern. Der Internationale Währungsfonds hat jetzt Geld nicht ausbezahlt, das Lukaschenko dringend benötigt hätte. Ich halte das für richtig. Denn wer mit solchen Geldern dann die Gehälter im Sicherheitsapparat verdoppeln kann, würde damit Mittel für die Unterdrückung bekommen. Schwieriger sind dagegen allgemeine Sanktionen, weil ein Argument dann immer auch ist, die Bevölkerung wird insgesamt getroffen. Deswegen hat die Europäische Union „smart sanctions“ angewandt und wirtschaftliche Sanktionen gegenüber jenen Unternehmen ausgesprochen, die eng mit dem Regime Lukaschenko verbunden sind. Ich habe inzwischen gelernt, dass solche Sanktionen eher einen Placebo-Effekt haben, weil sie unheimlich leicht umgangen werden können und Russland auch nicht mitzieht. Ich bin nach reiflicher Überlegung der Meinung, wir müssen konsequenter sein und die wesentliche Quelle, von der das Regime lebt, nämlich der Export von raffinierten Ölgütern, verschließen. Also eine güterbezogene Sanktion, die dann etwa die Hälfte des weißrussischen Exportes in die EU betreffen würde. Das könnte auch von Russland nicht aufgefangen werden und damit könnte der ökonomische Druck innerhalb des Regimes so stark werden, dass man nicht bereit ist, nur als Machterhalt für eine Person, das Land in den Abgrund zu führen.

Wie stark schätzt Du denn die oppositionellen Kräfte in Weißrussland ein?
Wir wissen nicht viel über die oppositionellen Kräfte innerhalb des Staatsapparats, dafür ist das Land schon zu lange gleichgeschaltet. Die Oppositionsparteien sind klein und zersplittert, was daran liegt, dass die Parteien sich unter den schwierigen Bedingungen nicht wirklich etablieren konnten. Dennoch fühlen sich weite Teile der weißrussischen Bevölkerung und insbesondere die jungen Leute einer offenen Gesellschaft zugehörig. Ich sage absichtlich offen und nicht westlich, weil ich das nicht für den Westen reklamieren will. Die Menschen sind säkular, kulturorientiert, inernetaffin. Und sie leiden unter dem muffigen, rückwärtsgewandten LPG-Denken eines Lukaschenkos. Die wollen so nicht leben.

Ist für Dich Weißrussland die letzte Diktatur Europas?
Ja. In Aserbaidschan finden zwar dramatische Menschenrechtsverletzungen statt, ich sehe mit riesiger Sorge, dass das Janukowytsch-Regime in der Ukraine beginnt, die Vertikale der Macht aufzubauen und die Opposition zu zerstören. Und ich schaue mit ganz großer Sorge auf die Entwicklung des Kreml unter einem Präsidenten Putin, weil ich fürchte, dass er der Versuchung nachgeben wird, ein autoritäres Regime mit harter Hand durchzusetzen. Aber diese Willkür, die wir in Belarus haben, gibt es derzeit zum Glück nur dort.

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